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Interview: Sonja Wolf über die Rolle von Minderheiten in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit

Dr. Georg Lun ist Direktor des WIFO (Institut für Wirtschaftsforschung) der Handelskammer Bozen (Südtirol, Italien). In seiner Arbeit analysiert er wirtschaftliche Entwicklungen in Südtirol mit einem besonderen Augenmerk auf regionale Besonderheiten wie sprachliche Vielfalt, grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Innovationspotenziale. In diesem Interview spricht Dr. Lun, der auch als Redner beim bevorstehenden 9. Forum der Europäischen Minderheitenregionen (26.–28. Juni 2025 in Novi Sad/Újvidék, Serbien) auftreten wird, über den wirtschaftlichen Mehrwert sprachlicher Vielfalt in Südtirol, die Rolle von Mehrsprachigkeit im grenzüberschreitenden Austausch – sowie darüber, wie kulturelle Diversität die Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit einer Region stärken kann.

 

Zwischen Schleswig-Holstein und Dänemark hat sich über Jahrzehnte eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Minderheiten und Mehrheiten entwickelt. Was macht dieses Modell aus Ihrer Sicht besonders erfolgreich?

Das ist genau einer der Aspekte, die ich versuche in meiner Dissertation wissenschaftlich zu beantworten. Meine bisherigen Beobachtungen und Datenerhebungen zeigen, dass die Minderheiten ein großer Treiber der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in der deutsch-dänischen Grenzregion sind und von Beginn an waren, insbesondere die deutsche Minderheit in Dänemark und die dänische Minderheit in Deutschland. Das hängt natürlich auf Seiten der Minderheiten damit zusammen, dass die Anbindung an den jeweiligen kin-state für sie wichtig ist, um ihre kulturelle Identität und Sprache zu pflegen (denn beide Minderheiten sind sehr kleine Gemeinschaften – die dänische Minderheit etwa 50.000 und die deutsche Minderheit etwa 15.000 Personen). Die friesische Volksgruppe und die deutschen Sinti und Roma sind in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit weniger aktiv. Ich denke, dass ein Faktor in diesem Zusammenhang auch die professionelle Selbstorganisation der beiden kin-state Minderheiten und deren auskömmliche Finanzierung ist, die es ihnen erlaubt, hier Ressourcen einzusetzen. Das bedeutet nicht unbedingt, dass die Minderheiten Projekte selbst direkt umsetzen, aber sie bringen für viele Dinge die Impulse ein und haben Lösungsvorschläge für Probleme, die auftauchen. Die Kenntnis der Minderheiten über die Systeme, Modalitäten und kulturellen Gepflogenheiten auf beiden Seiten der Grenze ist hierbei auch ein wichtiger Aspekt. Diese beiden Punkte sorgen auch dafür, dass beide Minderheiten recht selbstbewusst auftreten und deutlich sagen, was sie beitragen können und wollen für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit.

Diese Faktoren wären aber alleine noch nicht ausreichend. Hinzu kommen historische Entwicklungen, die in den Bonn-Kopenhagener Erklärungen einen zentralen Punkt finden: Das geopolitische Interesse Deutschlands, der Nato beizutreten und das Nutzen dieses Interesses für die „Klärung der Minderheitenfrage“ durch Dänemark haben damals diese Erklärungen ermöglicht, die wiederum einen riesigen Einfluss auf die weitere Entwicklung hatten. Diese Erklärungen sind bis heute eine wichtige Grundlage und ihre Absicht wird noch immer beiderseits der Grenze von den Regierungen respektiert – damit geht auch ein respektvoller Umgang mit den Minderheiten einher und ein Verständnis dafür, dass Minderheitenfragen wichtig sind. Das wiederum führt dazu, dass das die Beiträge der Minderheiten mit Wohlwollen betrachtet und ernst genommen werden. Außerdem gibt es viele Strukturen, in denen Minderheiten und Mehrheiten spezifisch für grenzüberschreitende Themen zusammenarbeiten und Möglichkeiten für Kommunikation und Austausch, sodass Ideen unkompliziert eingebracht, ausgetauscht und vertieft werden können. Auf einer solchen Basis lässt es sich gut zusammenarbeiten.

 

Welche Rolle spielen nationale Minderheiten konkret bei der regionalen Entwicklung, etwa in Bereichen wie Bildung, Sprache oder Arbeitsmarkt?

Auf Grundlage dessen, was ich bisher ausgewertet habe, wird recht deutlich, dass insbesondere die deutsche und die dänische Minderheit eigentlich alle relevanten Bereiche der regionalen Entwicklung bereichern. Auch die friesische Volksgruppe und die deutschen Sinti und Roma tun dies, allerdings habe ich hierzu keine konkreten Daten erhoben.

Für die beiden kin-state Minderheiten ist es aber sehr deutlich. Beide Minderheiten betreiben ihr jeweils eigenes Bildungssystem mit Schulen und Kitas, die  sich einer großen Beliebtheit erfreuen und eine hochwertige mehrsprachige und bikulturelle Ausbildung gewährleisten – sie leisten also einen wichtigen Beitrag für gut ausgebildete, interkulturell kompetente Arbeitskräfte in der Region. Bei der deutschen Minderheit kommt hinzu, dass die Minderheitenschulen und Kitas auch für zugewanderte deutsche Familien ein wichtiger Faktor sind. Für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Handelsbeziehungen ist gerade auch die Sprache essenziell.

Die hochprofessionalisierten Selbstorganisationen der Minderheiten sind ein ernstzunehmender Arbeitgeber in unserer Region, insbesondere durch die Schulen und Kitas, in denen viel Personal gebraucht wird. Das ist in einer ländlich geprägten Region mit vergleichsweise schwacher Infrastruktur ein wichtiger Punkt. Hier ist auch nicht zu vergessen, dass die Organisationen selbstverständlich Steuern zahlen auf die Gehälter, aber auch auf Produkte und Dienstleistungen, die sie erwerben, bzw. in Anspruch nehmen.

Aber es gibt auch andere wichtige Bereiche der regionalen Entwicklung, in denen die Minderheiten eine Bereicherung darstellen: die Medienlandschaft beispielsweise wird durch die Minderheitenzeitungen erweitert. Sie haben einen besonderen Blickwinkel auf die Region und berichten deutlich mehr über Entwicklungen auf der jeweils anderen Seite der Grenze. Auch in der Politik und in öffentlichen Diskursen bieten die Stimmen der Minderheiten häufig eine zusätzliche Facette, die die Vielfalt erhöht und Entwicklungen beiderseits der Grenze beinhaltet. Über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit haben wir ja schon gesprochen. Die Kulturszene wird durch die Minderheiten ebenfalls bereichert, die regelmäßig Konzerte, Theateraufführungen und ähnliches organisieren die natürlich immer auch der Mehrheitsbevölkerung offen stehen. Das kann auch ein Faktor im Tourismus sein.

 

Inwiefern können politische Rahmenbedingungen auf Landes- oder EU-Ebene die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Regionen mit Minderheiten fördern – oder auch erschweren?

So weit bin ich leider mit meiner Analyse noch nicht gekommen. Aber soweit ich es bisher ganz unwissenschaftlich sagen kann, fängt das mit ganz grundlegenden Aspekten an: Die Möglichkeit für die Minderheiten, sich selbst zu organisieren und professionell zu arbeiten, nicht alle Arbeit im Ehrenamt machen zu müssen; transparente Förderstrukturen, die eine gewisse Verlässlichkeit und Kontinuität für die Minderheiten erlauben; grundsätzliches Interesse an und Unterstützung für Euro-Regionen und ähnliche Strukturen, die die grenzüberschreitende Zusammenarbeit fördern; verlässliche Förderung für diese Strukturen; die grundsätzliche und selbstverständliche Einbindung der Minderheiten in Strukturen, die sich mit grenzüberschreitender Zusammenarbeit befassen; viel Kommunikation und Austausch.

Sind diese Punkte gegeben, ist das eine gute Grundlage. Dazu gehört natürlich gegenseitiges Vertrauen und der Wille, miteinander zu arbeiten bei denjenigen, die es umsetzen sollen. Werden Strukturen zur Zusammenarbeit aufgebaut, ohne diese Punkte zu berücksichtigen, wird es schwer.

 

Wo sehen Sie besondere Chancen, aber auch Herausforderungen für Minderheiten in heutigen Grenzregionen, gerade im Hinblick auf wirtschaftliche Zusammenarbeit oder Fachkräftegewinnung?

In den letzten Jahren sehen wir wieder verstärkt Grenzsicherungen, selbst innerhalb der EU. Diese sichtbaren Sicherungsmaßnahmen, wie etwa Zäune oder Mauern entlang der Grenzen, können auch die Grenzen in den Köpfen der Menschen wieder erscheinen lassen – und zwar nicht nur die Grenzen zu anderen Staaten, sondern potentiell auch zu anderen Menschen. Das bedeutet zum einen, dass wir Gefahr laufen, dass als Nebeneffekt auch die wahrgenommenen Grenzen zwischen Minderheiten und Mehrheiten wieder deutlicher werden und möglicherweise Ausgrenzungen und Konflikte wieder vermehrt auftreten, zum anderen bedeutet es auch, dass das Interesse daran, über Grenzen hinweg zusammen zu arbeiten, abnehmen könnte. Insbesondere wenn es um soziale oder gesellschaftliche Zusammenarbeit geht, aber auch in Bezug auf wirtschaftliche Zusammenarbeit. Der Fachkräftemangel, den wir an vielen Stellen sehen, könnte hier allerdings ein Gegengewicht darstellen. Wenn die Minderheiten eine Vermittlerrolle zwischen Institutionen einnehmen können oder aktiv an der Identifizierung und Lösung von Hindernissen für Grenzpendler mitarbeiten, kann der Mangel an Fachkräften in einer Region eine Chance für die Minderheiten sein. Hier kommt es allerdings auch stark auf das gesellschaftliche Verhältnis zwischen Minderheit und Mehrheit an und darauf, welche Ressourcen die Minderheit einsetzen kann und natürlich auf das Verhältnis der Staaten und Gesellschaften miteinander.

 

Was würden Sie Regionen raten, die ein stärkeres Miteinander über Grenzen hinweg anstoßen wollen, gerade mit Blick auf die Einbindung von Minderheiten?

Ich würde den Rat geben, die Verantwortlichkeit hierfür an eine Institution oder Person zu geben und diese dann mit den notwendigen Ressourcen auszustatten, um sich mit den Beteiligten auszutauschen und die Möglichkeiten, Bedürfnisse und Interessen kennenzulernen. Wenn bereits Strukturen für die grenzüberschreitende Kooperation vorhanden sind, sollten sie darauf geprüft werden, ob sie die Einbindung von Minderheiten ermöglichen und regelmäßig praktizieren. Die möglichen Vorteile der Zusammenarbeit und der Einbindung der Minderheiten und das Interesse der Region sollten dabei deutlich kommuniziert werden, denn Menschen sind eher zur Zusammenarbeit bereit, wenn sie erkennen, welche Vorteile es gibt.

Als Beispiel: Zwischen Deutschland und Dänemark gibt es zum einen eine Euroregion, die Region Sønderjylland-Schleswig, und zum anderen seit 2023 eine gemeinsame Arbeitsgruppe zum Abbau von Grenzhindernissen. In beiden Strukturen sind die Minderheiten von Beginn an fester Teil gewesen. In Schleswig-Holstein ist seit 2022 der Minderheitenbeauftragte des Ministerpräsidenten auch der Bevollmächtigte für die Zusammenarbeit mit Dänemark. Dadurch ergeben sich viele Synergien und das zeigt, wie eng verzahnt diese Themen bei uns sind. Der Minderheitenbeauftragte und Dänemark-Bevollmächtigte ist natürlich auch in allen Gremien dabei, die sich mit der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit befassen. Für uns funktioniert dieses Setup sehr gut und ich kann mir vorstellen, dass es auch als Modell für andere Regionen funktionieren könnte.

 

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