
Interview: Dr. Georg Lun über die wirtschaftliche Bedeutung sprachlicher Vielfalt in Südtirol und darüber hinaus
12.06.2025Dr. Georg Lun ist Direktor des WIFO (Institut für Wirtschaftsforschung) der Handelskammer Bozen (Südtirol, Italien). In seiner Arbeit analysiert er wirtschaftliche Entwicklungen in Südtirol mit einem besonderen Augenmerk auf regionale Besonderheiten wie sprachliche Vielfalt, grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Innovationspotenziale. In diesem Interview spricht Dr. Lun, der auch als Redner beim bevorstehenden 9. Forum der Europäischen Minderheitenregionen (26.–28. Juni 2025 in Novi Sad/Újvidék, Serbien) auftreten wird, über den wirtschaftlichen Mehrwert sprachlicher Vielfalt in Südtirol, die Rolle von Mehrsprachigkeit im grenzüberschreitenden Austausch – sowie darüber, wie kulturelle Diversität die Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit einer Region stärken kann.
Herr Dr. Lun, welche wirtschaftlichen Faktoren machen sprachliche Minderheiten in Grenzregionen zu einem Mehrwert für die Region – etwa am Beispiel Südtirols?
Sprachliche Minderheiten in Grenzregionen wie Südtirol tragen auf vielfältige Weise zu einem wirtschaftlichen Mehrwert bei. So fördert die Mehrsprachigkeit den grenzüberschreitenden Handel und die Wirtschaftsintegration: Unternehmen in Südtirol können dank ihrer Sprachkompetenz leichter mit Nachbarländern wie Österreich, Deutschland und der Schweiz kommunizieren. Das erleichtert den Handel, da Sprachbarrieren entfallen und Verhandlungen, Verträge sowie Kundenservice effizienter gestaltet werden können. Die Fähigkeit, in mehreren Sprachen zu agieren, macht die Region für internationale Geschäftspartner attraktiver und fördert grenzüberschreitende Kooperationen.
Auch im Tourismus spielen die sprachlichen Minderheiten eine wichtige Rolle. Südtirol ist bekannt für seine kulturelle Vielfalt und Mehrsprachigkeit (Deutsch, Italienisch, Ladinisch). Diese Vielfalt zieht Touristen aus verschiedenen Ländern an, die die Region als offen, freundlich und kulturell reich erleben möchten. Das stärkt Südtirols Position als attraktives Reiseziel.
Darüber hinaus profitiert die Innovations- und Kreativwirtschaft: Die kulturelle und sprachliche Vielfalt fördert Innovationen, da unterschiedliche Perspektiven und Denkweisen zusammenkommen. Kreative Branchen wie Design, Medien, Kunst und Technologie profitieren von dieser Vielfalt, da sie neue Ideen und Ansätze entwickeln können, die auf verschiedenen kulturellen Hintergründen basieren. Das stärkt auch die Wettbewerbsfähigkeit Südtirols im europäischen Kontext.
Insofern ist Mehrsprachigkeit ein wirtschaftlicher Vorteil, der die Region stärkt und zukunftsfähig macht.
Was sind aus Ihrer Sicht zentrale Erkenntnisse aus der Forschung zur wirtschaftlichen Wirkung von Mehrsprachigkeit oder kultureller Vielfalt?
Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt fördern Innovationen, da Herausforderungen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden und dadurch oft innovative Lösungsansätze entstehen. Mehrsprachige Arbeitskräfte erleichtern internationale Geschäftsbeziehungen und erweitern den Markt. Kulturelle Vielfalt zieht Touristen an und steigert den wirtschaftlichen Output im Tourismussektor. Forschungsergebnisse belegen auch, dass multikulturelle Teams kreativer sind und oft bessere Problemlösungen finden. Insgesamt steigert kulturelle Vielfalt die wirtschaftliche Dynamik und Innovationskraft einer Region.
Welche Rolle spielen Autonomieregelungen oder institutionelle Rahmenbedingungen für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in mehrsprachigen Regionen?
Autonomieregelungen schaffen stabile und klare Strukturen, die die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Sprachgruppen fördern und Konflikte minimieren. Durch die Anerkennung und Förderung der sprachlichen Vielfalt können regionale Identitäten gestärkt werden. Das erhöht die soziale Kohäsion und fördert die gegenseitige Akzeptanz. Durch autonome Regelungen können Regionen auch eigene wirtschaftliche Strategien entwickeln, die auf ihre spezifischen Bedürfnisse und Ressourcen zugeschnitten sind.
In Südtirol haben die Autonomieregelungen in den letzten 50 Jahren zum stetigen wirtschaftlichen Aufschwung beigetragen. Entscheidend war aus meiner Sicht aber auch der Ausbau des EU-Binnenmarktes und die Schengenregelung zu den offenen Grenzen.
Welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen wären notwendig, um das Potenzial von Minderheiten in Grenzregionen gezielter zu fördern?
An erster Stelle steht sicherlich die Beteiligung von Minderheitenvertreterinnen und -vertretern an wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozessen. Auch die Unterstützung von Medien, Kultur- und Bildungseinrichtungen in der Minderheitensprache sind ein wesentliches Instrument, um Grenzregionen zu fördern. In diesem Zusammenhang sind Bildungsangebote zentral, mit Unterricht in der Minderheiten- und der Landessprache.
Investitionen in Straßen, Bahnverbindungen und digitale Infrastruktur zur besseren Vernetzung mit den Nachbarregionen fördern nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung, sondern erleichtern auch den kulturellen Austausch.
Ein interessantes Instrument kann auch die Entwicklung einer regionalen Dachmarke sein. Damit kann die kulturelle Identität als Alleinstellungsmerkmal z. B. für den Tourismus, aber auch für die Vermarktung von regionalen Produkten genutzt werden. Südtirol hat das mit der Marke „Qualität Südtirol“ erfolgreich umgesetzt.
Weitere Informationen:
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WIFO – Institut für Wirtschaftsforschung der Handelskammer Bozen: Seit 1982 analysiert das WIFO die wirtschaftliche Entwicklung Südtirols. Es liefert fundierte Studien zu Themen wie Arbeitsmarkt, Bildung, öffentliche Finanzen, Wachstum, Innovation, Regionalentwicklung und Nachhaltigkeit – als Grundlage für politische und wirtschaftliche Entscheidungen.
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