Interview: Gyula Ocskay über „Re-Wording Borders“ und neue Wege regionaler Integration
18.06.2025Gyula Ocskay ist Generalsekretär des Central European Service for Cross-Border Initiatives (CESCI), einem Thinktank und Beratungsinstitut mit Sitz in Budapest. CESCI arbeitet daran, die trennenden Effekte von Grenzen abzubauen und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Mittel- und Südosteuropa zu fördern. Mit einem Hintergrund in Politikwissenschaft und Regionalentwicklung ist Ocskay seit über einem Jahrzehnt eine bedeutende Stimme in der europäischen Grenzforschung. In diesem Interview – im Vorfeld des 9. Forums der Europäischen Minderheitenregionen (26.–28. Juni 2025 in Novi Sad/Újvidék, Serbien), bei dem er als Redner auftreten wird – erläutert er, wie sich durch ein neues Narrativ über Grenzen, einen Prozess, den er „Re-Wording“ nennt, Integration und gegenseitiges Vertrauen stärken lassen. Er hebt die Rolle von Minderheiten als Brücken in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit hervor, zeigt den konkreten Nutzen offener Grenzen für den Alltag auf und benennt politische Rahmenbedingungen, die eine kohärente Regionalentwicklung in Europa fördern können.
Herr Ocskay, können Sie kurz die Schwerpunkte Ihrer Arbeit bei CESCI skizzieren und die größten Herausforderungen beschreiben, denen Sie typischerweise begegnen?
CESCI hat sich zum Ziel gesetzt, die trennende Wirkung administrativer Grenzen in Mittel- und Südosteuropa systematisch zu hinterfragen. Grenzen schaffen physische Distanz – wenn wir ihre Auswirkungen verringern, fördern wir Integration und Vertrauen zwischen Ländern und verschiedenen ethnischen Gruppen.
Seit 2015 wurde unsere Mission durch eine Reihe von Krisen auf die Probe gestellt: von der Migrationswelle und den Terroranschlägen in Frankreich und Belgien über den Brexit und die COVID-19-Pandemie bis hin zur russischen Invasion in der Ukraine und deren wirtschaftlichen Folgen. All diese Ereignisse haben das Narrativ des Nationalstaats gestärkt. In der Folge wurden rund 2000 Kilometer neuer Grenzzäune errichtet, Kontrollen an den Binnengrenzen des Schengenraums wiedereingeführt und das gegenseitige Vertrauen zwischen den EU-Mitgliedstaaten geschwächt. Heute geht Sicherheit vor Solidarität, nationalstaatliche Interessen vor Zusammenhalt – Grenzen werden zunehmend als trennende Linien betont, statt als Räume der Integration gedacht.
CESCI spricht vom „Re-Wording“ der Grenzen – was genau bedeutet dieses Motto und wie setzen Sie es konkret um?
In diesem Zusammenhang verstehen wir Grenzen als „diskursive Fakten“: Auch wenn sie manchmal physischen Barrieren folgen, sind es in erster Linie Narrative – etwa in Friedensverträgen, internationalen Abkommen, Gesetzen oder Statuten –, die ihnen Bedeutung verleihen. Diese Narrative entscheiden, wer ein- oder ausgeschlossen wird. Unsere Aufgabe sehen wir darin, diese Narrative zu überarbeiten und ihre Trennwirkung abzuschwächen. Grenzen können nicht einfach abgeschafft werden – aber ihre „Geschichte“, also das, was über sie gesagt wird, lässt sich verändern. Das ist mit „Re-Wording“ gemeint.
Konkret stellen wir traditionelle Vorstellungen von Raumordnung und der Rolle von Grenzen infrage – und das mit einem umfassenden Instrumentarium: Wir reduzieren Barrierewirkungen, indem wir die Wahrnehmung und das Verhalten der Menschen in Grenzregionen verändern. Ziel ist es, dass sie die Infrastrukturen und Dienstleistungen auf beiden Seiten gleichberechtigt nutzen können. Dafür erfassen wir verfügbare Ressourcen und erstellen integrierte grenzüberschreitende Entwicklungspläne; wir unterstützen regionale Akteure beim Aufbau gemeinsamer Verwaltungsstrukturen; wir verbessern den Zugang zu Fördermitteln durch Programmgestaltung und -bewertung, entwickeln integrierte Werkzeuge und analysieren rechtliche Hindernisse; wir sprechen Empfehlungen auf nationaler und EU-Ebene aus und schulen lokale Akteure durch Fortbildungen, Informationskampagnen und Beratung. Unsere Arbeit fußt dabei auf einem soliden wissenschaftlichen Fundament – CESCI zählt zu den führenden Grenzforschungsinstituten in Mitteleuropa.
Welche Rolle spielen Minderheiten in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit aus Ihrer Sicht?
Das wohl naheliegendste Symbol ist eine Brücke. Minderheiten haben bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit einen natürlichen Vorteil: Sie sprechen die Sprache beider Seiten, kennen die Verwaltungssysteme und sind mit den kulturellen Gegebenheiten vertraut. Sie können zwischen Institutionen, Kommunen, Unternehmern und Bürgerinnen und Bürgern vermitteln.
Darüber hinaus sind Minderheiten sowohl Akteure als auch Träger des Regionalismus. Ihre Identität ist eng mit dem Ort verbunden, an dem sie leben – durch Erzählungen, Traditionen und Gastronomie. Das Prinzip der Subsidiarität, eine zentrale Idee des europäischen Projekts, gibt den Regionen ein eigenes Gewicht – und ethnische Minderheiten sind ihre wichtigsten Verteidiger.
Gleichzeitig kann ihre Präsenz in Grenzgebieten von Mehrheitsgesellschaften als Bedrohung der territorialen Souveränität empfunden werden – ein Phänomen, das wir im postkommunistischen Raum häufig beobachten. Die Einbindung von Minderheiten ruft mitunter Misstrauen und Ablehnung hervor, manchmal sogar diskriminierende Regionalpolitik oder politische Interventionen. Doch dieses Verhalten schadet letztlich auch der Mehrheit – ihre eigenen Möglichkeiten werden durch nationalistische Entscheidungen eingeschränkt.
CESCI betrachtet daher vor allem räumliche Prozesse und Chancen. Unsere Vision grenzüberschreitender Integration zielt auf bessere Lebensbedingungen für alle Menschen in Grenzregionen – unabhängig von ihrer Herkunft. Wenn man Grenzen öffnet und Mobilität sowie Entwicklung fördert, profitieren alle. Und wo sich die Lebensverhältnisse verbessern, schwinden auch interethnische Konflikte – das ist der beste Schutz für Minderheiten.
Können Sie gute Beispiele nennen, bei denen grenzüberschreitende Projekte einen spürbaren Einfluss auf das Leben der Menschen hatten?
Immer wenn eine Grenze geöffnet wird, entsteht Bewegung. Die Menschen in postkommunistischen Ländern wissen aus eigener Erfahrung, was freie Mobilität bedeutet: Zugang zu Waren, Dienstleistungen, Jobs, besserer Bezahlung, Bildung, neuen Kontakten – kurz gesagt: Freiheit. Denken wir nur an die COVID-Zeit: Auch die jüngere Generation hat damals erfahren, welchen Wert offene Grenzen haben.
Offene Grenzen bringen automatisch Bewegung von Menschen, Waren, Dienstleistungen und Kapital mit sich. Mit EU-Instrumenten lässt sich diese Dynamik noch verstärken. In vielen Regionen funktioniert zum Beispiel der Rettungsdienst grenzüberschreitend: Die nächste Ambulanz bringt die Patientin oder den Patienten ins nächstgelegene Krankenhaus – unabhängig von der Grenze. Teilweise gibt es sogar grenzübergreifend verfügbare ambulante und stationäre Angebote.
In meinem Heimatort Esztergom an der slowakischen Grenze besteht seit 2004 eine Vereinbarung zwischen dem örtlichen Krankenhaus und einer slowakischen Versicherung: Jährlich werden dort 200 bis 250 slowakische Patienten behandelt. In den Pyrenäen betreiben Frankreich und Katalonien gemeinsam ein Krankenhaus.
Große Investoren und Einkaufszentren siedeln sich gerne in Grenzregionen an – sie rechnen dabei auch mit Arbeitskräften und Kundschaft von der jeweils anderen Seite. Das stärkt Produktionsstandorte, senkt die Arbeitslosigkeit und fördert den Ausbau öffentlicher Verkehrsinfrastruktur.
Kurzum: Öffnet man Grenzen und schützt die Freizügigkeit, zeigen sich schnell die positiven Effekte.
Welche politischen oder institutionellen Rahmenbedingungen braucht es, um die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Europa weiter zu stärken?
Die Europäische Union hat in den letzten Jahrzehnten ein umfassendes Instrumentarium zur Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit aufgebaut – darunter finanzielle Mittel wie Interreg, rechtliche Grundlagen (acquis communautaire) und Verwaltungsmechanismen wie Twinning, Euroregionen oder EVTZs. Jüngst wurde mit der BRIDGEforEU-Verordnung ein neuer Rechtsrahmen geschaffen, um rechtliche Hindernisse systematisch abzubauen.
Früher dachten wir, grenzüberschreitende Integration könnte irgendwann zu direkt gewählten Gremien oder Vertretungen in der EU führen. Heute, angesichts der erwähnten Krisen, scheint es schon ein Erfolg, wenn die Grenzen überhaupt offenbleiben. Das realistischste Ziel ist die Einrichtung sogenannter „Koordinationspunkte“ entlang der Grenzen, wie sie in der BRIDGEforEU-Verordnung vorgesehen sind. Dennoch dürfen wir die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger in grenzüberschreitenden Strukturen nicht aus den Augen verlieren – sie ist ein Weg zu lebendiger Demokratie in Grenzregionen.
Was erwarten Sie sich vom FUEN-Forum in Novi Sad, und welchen Beitrag kann eine Veranstaltung wie diese zur Stärkung europäischer Grenzregionen leisten?
Ich denke, jede Veranstaltung, die den Mehrwert von Kooperation hervorhebt, ist heute wertvoll – gerade in einer Zeit des wachsenden Misstrauens. Minderheiten können hier viel beitragen, denn ihr Überleben basiert auf Zusammenarbeit und Toleranz. Sie sind Pioniere der Annäherung und der Subsidiarität: Sie schlagen Brücken zwischen Nationen und stehen gleichzeitig für Regionalismus – durch ihre Sprache, ihre Kultur und ihre Identität, die eng mit bestimmten Regionen verknüpft ist. Europäischer Regionalismus ist ohne Schutz autochthoner ethnischer Gruppen nicht denkbar.
Novi Sad, Heimat von mehr als 20 ethnischen Gruppen, ist der ideale Ort, um diese doppelte Botschaft – Zusammenarbeit und Regionalismus – zu vermitteln. Im Parlament der Vojvodina kann in sechs Amtssprachen gesprochen werden. Vielleicht zeigt Serbien heute vielen europäischen Ländern, wie es gehen kann …
Weitere Informationen:
- Für weiterführende Einblicke in die Arbeit von CESCI zur Neugestaltung von Grenzen und zur Regionalentwicklung in Europa besuchen Sie: budapest.cesci-net.eu
Pressemitteilungen
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